Grenzeloos Maastricht

Vom AZC zum Arbeitsmarkt: Frühintervention bei Neuankömmlingen

Warum es einen Unterschied macht, ob man jemanden nach 6 Monaten oder 6 Jahren erreicht – und wie Corona unsere Zielgruppe komplett verändert hat


„Ich möchte arbeiten. Ich möchte lernen. Wann kann ich anfangen?“

Omar (Namen sind fiktiv) An einem beliebigen Nachmittag im Jahr 2022 tauchte plötzlich jemand in unserem Restaurant auf. Er hatte uns über Facebook gefunden, lebte noch im Asylbewerberheim, sprach kaum Niederländisch, strahlte aber eine ansteckende Energie aus. Er wollte nicht warten, bis sein Status endgültig geklärt war, nicht warten, bis er irgendwo untergebracht war, nicht warten, bis ihn ein Facharzt überwies.

Er wollte es jetzt.

Eine Verschiebung der Zielgruppe

Zu Beginn unserer Tätigkeit haben wir vor allem Menschen aufgenommen, die schon länger in den Niederlanden lebten. Statusinhaber, die ihren Integrationsprozess bereits teilweise abgeschlossen hatten, eine Wohnung erhalten hatten und nun bereit für den „nächsten Schritt“ waren. Oft waren es Menschen, die bereits etwas Niederländisch sprachen und die Grundlagen des niederländischen Systems verstanden.

Später änderte sich das komplett. 

Aufgrund all der Verzögerungen bei den Verfahren, der Wohnungszuteilung und den Integrationsprozessen hatten wir plötzlich Menschen, die sich noch viel weiter in den Niederlanden befanden. Menschen wie Omar, der noch im AZC lebte. Menschen, die gerade ihren ersten positiven Bescheid erhalten hatten. Menschen, für die alles noch neu, überwältigend und voller Möglichkeiten war.

Anfangs sahen wir das als Problem. Das Sprachniveau war niedriger. Es herrschte mehr Unsicherheit – manchmal wurden Leute in ein anderes AZC versetzt, manchmal war ein Antrag enttäuschend. Das bürokratische Fundament, auf dem wir bauten, war viel instabiler.

Doch langsam wurde uns klar, dass uns eine einmalige Chance geboten wurde.

Der Unterschied

Yara kam zu uns, nachdem sie 13 Jahre in den Niederlanden gelebt hatte. Sie sprach gut Niederländisch, kannte das System und verfügte bereits über ein Netzwerk. Für sie war Grenzeloos vor allem ein Ort, um Berufserfahrung zu sammeln und ihr Selbstvertrauen im Berufsleben zu stärken.

Omar hingegen sah buchstäblich alles zum ersten Mal. Wie bestellte man Kaffee? Wie begrüßte man niederländische Kollegen? Was war normal zu fragen, was nicht? Für ihn war Grenzeloos ein Fenster zur niederländischen Gesellschaft.

Die Macht des ersten Eindrucks

Wer früh zu uns kam, prägte sein Bild von den Niederlanden unter anderem durch seine Erfahrungen bei Grenzeloos. Als sie erfuhren, dass sich niederländische Kollegen gegenseitig helfen, dass Fehler normal sind und man eigene Ideen einbringen kann, wurde dies zu ihrem Bezugspunkt für alle zukünftigen Arbeitserfahrungen.

Da war eine Praktikantin aus Guinea. Für sie war Grenzeloos nicht nur eine Karriere nach vielen anderen, sondern ihre erste echte Einführung in die Arbeit in den Niederlanden. Die Art und Weise, wie wir sie behandelten, bestimmte auch ihr Verhalten in späteren Jobs. Das war eine besondere Gelegenheit. 

Motivation vs. Stabilität

Was auffiel, war die enorme Motivation. Neuankömmlinge hatten oft einen unglaublichen Antrieb. Sie wollten beweisen, dass es sich gelohnt hatte, hierherzukommen. Sie wollten ihren Familien zeigen, dass die Reise nicht umsonst war. Sie wollten sich selbst beweisen, dass sie es schaffen konnten. Manche kamen jeden Tag, obwohl sie eigentlich nur für zwei Tage kommen sollten. 

Doch diese Motivation ging mit Instabilität einher. Menschen konnten plötzlich verlegt werden. Verfahren konnten anders verlaufen als erwartet. Familienmitglieder im Herkunftsland erlebten eine Krise nach der anderen. Die Grundlagen ihres Lebens waren noch nicht geschaffen.

Anpassung unseres Ansatzes

Diese neue Zielgruppe zwang uns, unseren Ansatz anzupassen:

Flexibilität in der PlanungWir haben gelernt, mit plötzlichen Veränderungen umzugehen. Wenn jemand für einen Eingriff zwei Wochen ausfiel, mussten wir dafür Platz schaffen.

Unterer Eingang: Wir konnten weniger als selbstverständlich ansehen. Was ist eine Debitkarte? Wie funktioniert der öffentliche Nahverkehr? Was bedeutet „gezellig“? Alles musste erklärt werden.

Intensivere Betreuung: Diese Menschen brauchten nicht nur Arbeitscoaching, sondern oft auch Unterstützung bei der Orientierung im niederländischen System im Allgemeinen.

Kürzere Zyklen: Einige Kurse, die als längere Kurse geplant waren, wurden letztendlich zu kürzeren Intensivkursen, weil sich die Situation einer Person plötzlich geändert hat.

Der AZC-Faktor

Die Menschen, die noch im AZC lebten, brachten eine zusätzliche Dimension mit. Sie lebten in einer künstlichen Gemeinschaft von Menschen aus aller Welt, alle in Warteposition. Grenzeloos war für sie ein Ausflug in die „echte“ niederländische Welt.

Omar erzählte uns, wie seltsam es war, von einer Umgebung, in der alle warteten, an einen Ort zu kommen, an dem alle beschäftigt waren. Da alle in der Warteschleife saßen, bestand ein hohes Risiko für Frustration, Konflikte und psychische Probleme. 

Traumata

Eine Herausforderung der Frühintervention bestand darin, dass sich diese Menschen oft noch mitten in ihrer Traumaverarbeitung befanden. Geschichten von Krieg, Flucht und Verlust waren noch frisch. Plötzlich brach jemand mitten am Arbeitstag in Tränen aus, weil ihn etwas an ein schmerzhaftes Erlebnis erinnerte. Das brachte zusätzliche Herausforderungen mit sich, aber auch ganz besondere Momente der Verletzlichkeit, in denen unser Team für jemanden da sein konnte, der Probleme hatte. 

Die Sprachbeschleunigung

Was wir in der Frühförderung beobachtet haben, war, dass die Teilnehmer Niederländisch viel schneller lernten als im traditionellen Sprachunterricht. Sie hatten sofort eine Anwendung, einen Grund, einen Kontext. Wenn eine Auszubildende einem niederländischen Gast erklären musste, was in der Suppe war, musste sie das tun. Und dann stellt sich oft heraus, dass man mehr kann, als man denkt. 

Dieser praktische Spracherwerb erwies sich als sehr effektiv und viele Teilnehmer erzielten durch die intensive Interaktion schnelle Fortschritte. 

Was wir gelernt haben

1. Das Timing ist entscheidend: Je früher Sie die Menschen erreichen, desto mehr Einfluss können Sie auf ihre niederländische Entwicklung haben.

2. Motivation gleicht vieles aus: Menschen, die neu angekommen sind, verfügen oft über einen Antrieb, der später nur schwer mithalten kann.

3. Der erste Eindruck zählt: Die Art und Weise, wie Menschen ihre ersten Berufserfahrungen erleben, beeinflusst alle ihre Zukunftserwartungen.

4. Flexibilität ist unerlässlich: Bei einer frühen Intervention muss man viel stärker mit Instabilität und Unvorhersehbarkeit rechnen.

5. Kontext beschleunigt das Lernen: Niederländisch zu lernen, wenn Sie es brauchen, ist viel effektiver, als Niederländisch nur für den Fall zu lernen, dass Sie es jemals brauchen.

Die politischen Implikationen

Unsere Erfahrungen mit Frühförderung haben uns gezeigt, wie wichtig dies für die Integrationspolitik ist. Anstatt die Menschen jahrelang warten zu lassen, bis sie „bereit“ für den Arbeitsmarkt sind, sollten wir sie schon viel früher in die Möglichkeiten hineinschnuppern lassen.

Nicht als vollständiger Ersatz für Integration, sondern als Ergänzung. Eine Möglichkeit, den Menschen Hoffnung zu geben, ihnen Perspektiven zu bieten und zu zeigen, dass sich Investitionen in die niederländische Sprache und Kultur auszahlen.

Denn was wir bei Omar, Mohammed, Yara und all den anderen gesehen haben, war Folgendes: Wenn man den Menschen frühzeitig zeigt, dass sie willkommen sind, dass sie wertvoll sind, dass sie etwas beitragen können, entsteht eine Energie, die sich Jahre später nur schwer wiederherstellen lässt.

Das ist die Macht des frühen Eingreifens. Und vielleicht die größte Chance für unser derzeitiges System.


Im nächsten Blog beschäftigen wir uns mit einer unserer größten Herausforderungen: Wie organisiert man ein Sozialunternehmen so, dass die Wirkungsziele wirklich gesichert sind? Und warum Governance viel mehr ist als nur Papierkram.

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